Maya in der Reittherapie

Seit mehreren Jahren wohnt Maya (Name geändert) bei uns im Kinderdorf. Mit ihren 14 Jahren steht sie nun aber vor einer herausfordernden Situation. Ihre leiblichen Eltern wünschen sich, dass sie wieder nach Hause kommt.
Ein Zuhause, das jedoch nicht die Struktur und Fürsorge bietet, die sie im Kinderdorf erfahren hat und die ihr guttut. Dieser Konflikt stellt Maya vor eine schwierige Entscheidung, da sie sich sowohl ihrer leiblichen Familie als auch ihrer Kinderdorffamilie tief verbunden fühlt. Maya selbst durchlebt in dieser Situation immense emotionale Turbulenzen. Es gibt Tage, an denen sie förmlich zerrissen ist, nicht weiß, wohin mit ihren Gefühlen und mit Wutanfällen zu kämpfen hat. Sie kann sich nicht kontrollieren und lässt ihren Ärger an anderen aus.
 
Neben den täglichen Zuwendungen durch die Pflegefamilie und die pädagogischen Fachkräfte in der Gruppe, hat Maya daher eine zusätzliche Reittherapiestunde in der Woche. Dort sind 50 Minuten nur ihr allein gewidmet, es geht nur um sie in einem geschützten Rahmen. Im Kinderdorfeigenen Reitstall leben fünf Pferde, die für therapeutische Zwecke genutzt werden. Die Kinder und Jugendlichen aus dem Pestalozzi Kinderdorf können eigenständig zu Fuß oder mit dem Fahrrad zum Hof gelangen. Die Pferde sind so vielfältig wie die Kinder selbst und besitzen eigene Persönlichkeiten. Jedoch haben sie alle eine gemeinsame Eigenschaft: Sie haben keine Erwartungen an die Kinder und beurteilen sie nicht. So entsteht ein wertungsfreier Raum.
 
Der Auftakt einer Reittherapiestunde umfasst stets die Vorbereitung und das Satteln des Pferdes. In dieses Ritual wird auch Maya aktiv eingebunden. Die praktischen Handgriffe entführen sie gedanklich aus dem gewohnten Alltag und versetzen sie unmittelbar in die Atmosphäre des Stalls. Das Streicheln des Pferdes, das Fühlen seines Fells, der charakteristische Geruch – all diese sensorischen Elemente ermöglichen es Maya, vollständig im Moment zu sein und sich mit dem Pferd zu verbinden. Dann geht es auch schon rauf aufs Pferd. Joschi heißt der Wallach, den Maya als „Bezugspferd“ hat, mit ihm arbeitet sie schwerpunktmäßig in ihrem Therapiejahr. Frau König, die Reittherapeutin, hilft Maya ihre Ziele im reiterlichen Arbeiten mit Joschi umzusetzen. Für diese muss sich Maya besonders intensiv fokussieren. In der Symbiose zwischen Maya und Joschi offenbart sich beim Reiten eine einzigartige Verbindung. Das Pferd reagiert präzise auf die Signale seiner Reiterin. Schweifen ihre Gedanken ab, verliert sie die Kontrolle, und Joschi übernimmt das Steuer. Mayas Gedankenkarussell interessiert ihn nicht; für ihn zählt allein die Gegenwart. In der Reithalle, im harmonischen Zusammenspiel von Mensch und Tier, entfaltet sich eine besondere Dimension. „Nur im Hier und Jetzt können wir etwas bewirken“, betont die erfahrene Reittherapeutin. Maya muss vollkommen präsent sein, im Einklang mit Joschi. Durch diese Achtsamkeit kann sie ihre inneren Kräfte aktivieren und sich von den Wirren des Alltags lösen. Joschi wird zum verlässlichen Begleiter, trägt Maya mit einer Sicherheit, die sie in der Therapie mit ihrem Bewusst-
sein verknüpft. „Ich bin friedlich“, flüstert Maya in diesen Momenten vor sich hin und verbindet das entspannte
Gefühl des Reitens mit einem klaren kognitiven Fokus. Diese Botschaft wird zu einem Mantra, einer stärkenden
Affirmation, die Maya in schwierigen Momenten begleitet. Wenn die Wut wieder hochkocht, erinnert sie
sich an diese Worte, visualisiert sich, wie Joschi sie sicher trägt, und findet Frieden inmitten des Sturms ihrer Emotionen. In diesem Zusammenspiel von Pferd und Reiterin erfährt Maya nicht nur therapeutische Hilfe, sondern auch eine kraftvolle Quelle der Selbstfindung und inneren Ruhe.
 
Die Kinder gewinnen durch die Anleitung der Reittherapeutin eine Stärke, die ihnen zuvor gefehlt hat. „Erst wenn du dir deiner eigenen Identität und Fähigkeiten bewusst bist, kannst du widerstandsfähig sein und die Kraft aufbringen, deine Ängste und Probleme zu überwinden“, betont Laura König. Maya lernt in der Therapie ihre inneren Ressourcen zu bündeln und wird mit jeder Stunde selbstständiger und freier. Zu Beginn führte Frau König das Pferd noch an der Leine, mittlerweile jedoch hält Maya die Zügel selbst fest in der Hand.